Off-Saison? Von wegen! So erntet ihr frisches Gemüse im Winter
Es ist kalt, der Wind wirbelt vereinzelte Schneeflocken über den harten, frostigen Boden. Eisige Böen und nadelspitze Regenschauer fegen immer wieder über die Beete hinweg, die Ernteparzellen sind in trübe Nebelschwaden gehüllt, die nur wenige diffuse Sonnenstrahlen durchlassen. Der Boden ist schon mit Raureif belegt, die ersten Nachtfröste haben die unzähligen beschrifteten Beete in der City Farm Schönbrunn schon hinter sich.
Kaum vorstellbar, dass hier zu dieser Jahreszeit noch Gemüse gedeihen soll. Gemüse, das nicht nur das ganze Jahr über geerntet werden kann, sondern auch noch kräftiger, intensiver, knackiger schmecken soll als sein sommergereiftes Pendant. Karotten, die noch karottiger schmecken, Stielmangold in atemberaubenden Farben, Pflanzen, die sich in Größe und Geschmack den jahreszeitlichen Herausforderungen anpassen und plötzlich ganz andere Eigenschaften aufweisen, als wir es gewohnt sind. Das jedenfalls verspricht Wolfgang Palme, der Leiter der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau Schönbrunn.
Ein Blick auf die unwirtliche Marslandschaft, die uns umgibt, scheint allerdings eher die gängigen Gartenkalender zu bestätigen: Gemüse und Winter, das passt nicht zusammen. Zwischen November und Februar ist Planung angesagt, auch das Sortieren des Samenbestands ist sicher kein Fehler, das Ernten beschränkt sich in vielen Ratgebern auf Gartenkresse am Fensterbrett.
Glaubt man Wolfgang Palme, entgeht uns dadurch ein Universum an reichen Geschmäckern, die Chance auf üppige Ernten und nicht zuletzt kulinarische Abenteuer.
Kürbis-Quiche zu Weihnachten
Wie wäre es zum Beispiel mit einer Kürbis-Quiche mit Asia-Salaten zum Weihnachtsessen? Das klingt vielleicht ungewöhnlich, doch dieser vorprogrammierte Eye-Catcher auf deiner Festtafel wäre auch noch eine ausgesprochen saisonale Köstlichkeit aus frischer Ernte. Basierend auf langjährigen Erfahrungen und aufbauend auf jahrhundertealtem Wissen hat der Gartenexperte eine Methode entwickelt, mit der deine Beete auch in der kalten Jahreszeit frisches Wintergemüse abwerfen. Ganz ohne Hightech, überdimensionierte Gewächshäuser oder chemische Zusätze. Und: ohne Beheizung.
Mit einfachsten Hilfsmitteln und vor allem mit dem richtigen Timing kannst du im Dezember Chicorée antreiben, im Januar frischen Schnittmangold auftischen und im Februar zarte Babyleaf-Salate von deinem Balkon hereinholen. Wintergemüse kann auch auf kleinsten Flächen herangezüchtet werden, im Frühbeetkasten, am Fensterbrett oder im Topf. Von wegen Off-Saison!
Und tatsächlich: Bei einem Rundgang auf dem Gelände der City Farm Schönbrunn kann man sie nicht übersehen – Glocken, Frühbeetkästen und Folientunnel bewahren die vielfältigen Gartenschätze vor unerwünschtem Wärmeverlust, unter ihnen entfalten sich später grüne Oasen inmitten der Schneewüste. Wo auf den ersten Blick Schnee und Eis alles im Griff haben, reicht manchmal eine kleine Käseglocke, oder ein primitives Zelt um die erstaunlich widerstandsfähigen Pflanzen zu schützen.
Auf die außergewöhnliche Winterlese schwören inzwischen Selbstversorger*innen und Haubenköch*innen gleichermaßen. Letztere vor allem wegen des außergewöhnlichen Aromas, das die natürliche Frostabwehr vielen Sorten angedeihen lässt und das sich in Geschmack und Konsistenz bemerkbar macht. So schmecken Karotten im Winter zart und süß, Kohlrabi wird zartschmelzend und Kohlgemüse bildet in der kalten Jahreszeit einen milderen Geschmack und eine feinere Struktur. Andere Sorten werden hingegen derber und knackiger, zum Beispiel Mangold, der im Freien überwintert.
Altes Wissen, neu entdeckt
Es ist eine ungeahnte Vielfalt, die sich unter der Schneedecke verbirgt. Über 120 Sorten hat Wolfgang Palme für sein umfassendes Handbuch zur Winterernte erfolgreich getestet, Inspirationen und Anleitungen aus anderen Gegenden und Klimazonen wurden dazu an mitteleuropäische Verhältnisse angepasst und in Anbaukalender und Sortenporträts übersetzt.
Eliot Colemans Standardwerk „Handbuch Wintergärtnerei“ diente dabei neben jahrelanger Forschungsarbeit als wichtige Inspirationsquelle, seit über 40 Jahren lebt der Wintergarten-Pionier auf seiner Farm im US-Bundesstaat Maine den ganzjährigen biologischen Gemüsebau vor.
Dabei wird es manch einen erstaunen, dass die angestrebte Verlängerung der Erntesaison keineswegs einer kompromisslosen Wachstumslogik entspringt, die den Kreislauf der Natur überlisten will. Vielmehr beginnt die große Abenteuerreise, auf die uns Wolfgang Palme bei unserem Rundgang mitnimmt,
“in den alten Zeiten des Gartenbaus, die zwar nicht immer so gut waren, aber sicherlich geprägt von einem ressourcenschonenenden Umgang mit Energie und von aufmerksamer Beobachtung der Natur. Oft habe ich den starken Eindruck, dass wir genau diese Dinge heutzutage verlernt haben. Generationen von Gärtnern sowohl Selbstversorger, als auch Profis, haben Low-Energy-Gemüsebau betrieben, lange bevor man solche ‘neudeutschen’ Begriffe überhaupt benutzte. Das gärtnerische Wissen und der reiche Erfahrungsschatz von damals sind allerdings in Vergessenheit geraten. Nur durch ein intensives Studium der alten Gartenliteratur können sie wieder gehoben werden.” (aus: Frisches Gemüse im Winter ernten)
Seine Recherchen führten den Gartenbau-Professor in Archive und Antiquariate, das wertvolle Wissen um den energiesparenden und nachhaltigen Anbau von Wintergemüse findet sich in vielen Fällen nur mehr in sehr alten Wälzern und verstaubten Heftchen aus der Zwischen- und Nachkriegszeit, als das Bekämpfen von Nahrungsmittelknappheit eine besonders hohe Priorität hatte.
Standardisierte Massenproduktion und die ständige Verfügbarkeit ausländischer Tomaten und unterschiedlichster Früchte aus Intensivgewächshäusern haben die Alternative einer wirklich saisonalen Küche aus den Köpfen verdrängt. Dabei ist es ein Leichtes, Vielfaltsprodukten aus ungeheiztem regionalem Anbau wie frischen Wintersalaten, zarten Winterradieschen, Freilandzichorien oder frostfesten Kräutern eine Chance zu geben. Selbst wenn der Winter im Garten nicht die klassische Zeit des Wachstums und der Blüte ist, kann auch dein Tisch in den kältesten Monaten reich mit frisch geernteten Gartenschätzen aus eigenem Anbau gedeckt sein. Die Voraussetzungen dafür sind durchaus überschaubar und selbst für Gartenanfänger*innen geeignet.
Wintergärtnern ohne Wintergarten
“Der kleinste Garten ist ein Topf”, entgegen der vorherrschenden Meinung braucht es keine riesigen Gewächshäuser und Ernteflächen, um das Gartenjahr mit Gewinn in die Verlängerung zu schicken. Blattkohl, Stielmangold, Thymian, Winterheckenzwiebeln werfen auch im Winter reichlich Ernte ab, dem vitaminreichen und köstlichen Abenteuer Wintergärtnerei steht dir also auch auf dem eigenen Balkon oder im Blumenkistchen nichts im Wege, selbst das Fensterbrett und andere Kleinstflächen eignen sich zum Anbau winterfester Kräuter.
Ruhepause mit Vorzügen
Freilich, der Winter ist auch die Zeit der Ruhe und Regeneration im Garten, die wohlverdiente Pause sei den Pflanzen, dem Boden und auch den Gärtner*innen natürlich vergönnt:
“Nun haben auch wir Zeit, uns zu erholen, neue Kräfte zu sammeln, in guten Gartenbüchern zu blättern und von der nächsten Gartensaison zu träumen …
Was aber, wenn noch eines dazukommt: nämlich Frisches zu ernten und zu genießen trotz Kälte und Schnee? Ist das möglich? Ja!” (aus: Frisches Gemüse im Winter ernten)
Da ist sich Wolfgang Palme sicher. Ein großer Teil unserer Gemüsesorten ist sehr viel frostfester als landläufig bekannt. Dabei schmecken sie auch noch unvergleichlich köstlich und stellen eine gesunde und ökologisch vertretbare Alternative zu importiertem Gemüse aus aller Welt dar. So gesehen ist die Wiederentdeckung der Winterernte eine Rückbesinnung auf eine saisonale Winterversorgung, die lokale Strukturen stärkt und einen Gegenentwurf zu einer ressourcenfressenden, agroindustriellen Massenproduktions- und Vermarktungsmaschinerie darstellt.
Während wir also über den frostig knirschenden Boden der Versuchsanstalt Schönbrunn spazieren, reifen links und rechts des Weges – unter unscheinbaren Fenstern, Planen und Glasglocken – kleine Oasen heran, winzige Widerstandsnester, die unverhoffte Gaumenfreuden für uns bereithalten.
Noch lange ist die fast vergessene Wintersaison im Garten nicht erschöpfend erforscht. Welche Entdeckungen, neue Geschmackserlebnisse und Überraschungen mögen Wolfgang Palme und sein Team noch erwarten, wenn sie das Wintervlies zurückschlagen oder die Glasglocke lüften? Am besten findest du das selbst heraus: Mit wenigen Handgriffen und etwas Planung kannst auch du zum Weihnachtsfest frisch geernteten Kürbis servieren und bis in den Februar selbst gepflücktes Kohlgemüse auftischen. Am besten überlegst du dir gleich für das ganze Gartenjahr, welche Gemüse wann und in welchem Beet an die Reihe kommen. Denn: Gut geplant, ist halb geerntet. Gemüse anbauen nach Plan hat jede Menge Vorteile.
Die besten Sorten und einfachsten Methoden, im Winter frisches Gemüse zu ernten, sind nun erstmals in einem umfassenden Handbuch mit einem beigelegten Anbau- und Erntekalender versammelt.
Mehr braucht es nicht, um sich in das Experiment Wintergärtnerei zu stürzen, mehr als die – bisher verlorengeglaubte – Wintersaison hat man außerdem nicht zu verlieren.
Zu gewinnen gibt es hingegen vieles: eine Zeitreise in die alten Zeiten des Gemüsebaus, ein Abenteuer, eine ungeahnte Geschmacksvielfalt, ein Wintermärchen.
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Ein Wintermärchen
von Wolfgang Palme
Der Winter ist die Off-Saison
in jedem Selbstversorgergarten,
gleichsam die Jahresendstation
mit großen Schildern: Bitte warten!
In jedem Acker, Feld und Beet.
Jetzt kann man nur vom Sommer träumen.
Weil ja im Winter gar nichts geht,
gibt es auch gar nichts zu versäumen.
So hüten wir die Ofenbank,
das Winter-Ernteloch ist riesig.
Ein halbes Jahr warten wir lang,
weil – nur der Sommer ist gemüsig.
An dieser Stelle sag’ ich: Halt!
Um so viel Zeit wär’s wirklich schade.
Denn Kräuter, Lauch, Salatvielfalt
vertragen satte Minusgrade!
„Wie passt Gemüse denn zu Frost?“,
hör’ ich die Zweifler protestieren,
„na ja, vielleicht als Tiefkühlkost.
Im Freien muss es doch erfrieren!“
So lehrt’s die Universität,
so steht’s in Büchern und Journalen,
nur – das Gemüse widersteht,
will nicht dem Frost zum Opfer fallen.
Es hält sich glatt nicht ans Klischee,
hat sicher all das nie gelesen,
bleibt frisch und grün in Eis und Schnee,
taut auf als wäre nichts gewesen.